Die Zeit ist reif
Zeit ist ein absolut knappes Gut, sie ist nicht käuflich, kann nicht gespart, gelagert oder vermehrt werden. Sie verrinnt kontinuierlich und unwiderruflich. Sicher geht es vielen so, dass sie mit zunehmenden Alter die Zeit als Gut wichtiger einschätzen, als alle über die Grundbedürfnis hinausgehenden materiellen Werte.
Über Wein, Zeit und Prioritäten
Auch Wein hat viel mit Zeit zu tun. Er kann unter anderem Zeitkapsel und Vermächtnis sein, genauso aber einen hohen monitären Wert haben. Wie also damit umgehen, wenn man als Vermächtnis Kisten von wertvollem alten Wein vererbt bekommt, der eher am Ende seines Tinkzeitfensters ist?
Es wird sicher individuell unterschiedlich sein, was in so einem Fall an Überlegungen überwiegt. Die Neugier darauf wie sich jahrzehntealter „Premier Cru Classe“ im Glas und am Gaumen macht oder pragmatische Berechnungen was die Kisten bei einer Auktion erlösen könnten?
Wein und das universelle Bewusstsein
In dem Falle dieser Verkostung lag der Fall etwas anders. Wenn man den irdischen Tod eines Menschen als Einritt in das universelle Bewusstsein sieht und damit weiß, dass alle Menschen sich früher oder später im universellen Bewusstsein wieder vereinen, wäre es keine Option gewesen diesen Wein zu verkaufen. Der ursprüngliche Besitzer dieser Weinkisten war ein grosser Genussmensch und würde es seinen Erben sicher übelnehmen wenn sie monetäre Interessen über einzigartige Genußoptionen stellen. Ausserdem sind Friedhofsbesuche sicher eine sinnvolle Sache, aber in Gedenken an einen Menschen ganz besonderen Wein zu trinken ist wahrscheinlich deutlich weniger schwersinnig.
Wein als flüssiger Nachlass
Aus dem „flüssigen Nachlass“ hatten wir uns drei Flaschen ausgesucht. Einen 1985er Mas de Daumas Gassac aus dem Languedoc, einen 1990er Chateau Sociando-Mallet, Haut-Medoc und einen 1990er Chateau Lafite Rothschild 1er Grand Cru Classe Pauillac, jeweils aus der Médoc Region.
Über den Lafite muss man wohl nicht viel sagen. Der 1990er war ein exzellenter Lafite-Jahrgang in wohl einem der berühmtesten, besten und teuersten Weingüter der Welt. Das Weingut Château Sociando-Mallet galt in den 90ern als eines der absoluten Top Weingüter im Haut-Médoc. Daumas Gassac ist ein grosser Name im Languedoc und war 1985 wahrscheinlich der einzige Erzeuger des Languedoc, der Weine von Weltklasseformat erzeugte.
Die Zeit ist reif – 30+ Jahre später
Und so kam es dann statt einem Friedhofbesuch zu einem andächtigen Eingiessen von mindestens 30 Jahre altem Wein, begleitet von einem exzellentem Essen u.a. mit einem fantasitschen lauwarmen Octups Salat. Und wir gingen der spannenden Frage nach, wie sich die Weine wohl gehalten haben.
Der 1990er Chateau Sociando-Mallet hatte die deutlichsten Alterungstöne, eine gute Struktur mit viel reifer Beerenfrucht war aber noch gut erkennbar. Hier hatten wir auf jeden Fall das optimale Trinkzeitfenster schon verpasst.
Der 1990er Lafite entsprach eigentlich genau den (realistischen) Erwartungen. Ein strukturierter, hochklassiger und eleganter Premiere Cru, der aber halt schon etwas in die Jahre gekommen war. Für so eine geballte, alte Premiere Cru Aromakomposition in Kombination mit dem berühmten Etikett wird oft viel Geld ausgegeben. Der Geschmack alleine rechtfertigt das aber unserer Meinung nach nicht.
Die Überraschung und an Nase und Gaumen der überzeugendste Wein war der 1985er Mas de Daumas Gassac. Obwohl er der älteste Wein war, gab er sich an Nase und Gaumen noch kein bisschen Müde. Wir fanden hier noch frische Frucht, tolle Tannine Johannisbeeraromen.
Was bleibt? „Carpe Diem“ stand auf der Todesanzeige des verstorbenen ursprünglichen Besitzers dieser Weine. Feiert die Feste wie sie fallen, geniesst das Leben wann immer es euch die Gelegenheit bietet und trinkt den Wein, wenn er am Höhepunkt ist. Das letzte Hemd hat keine Taschen und kein Mensch kann vorraussagen, wann seine Zeit vorüber ist.
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